Anfänge der KogelStreetNews
Die Redaktion von Funkhaus Europa fand ihren Beitrag so interessant, dass sie ihn ausgewählt hat. Nun wird ein Radiobericht über Semhar gemacht und sie kommt ins Internet und auf eine CD, die das Projekt ‚Roots’ (= Wurzeln) in Europa bekannt machen soll. Inzwischen waren schon zwei Radioreporter in der 8b, um Semhar zu interviewen. Sie haben viele Fotos gemacht und Semhar auch zu Hause besucht, um zu sehen, wie sie heute lebt. Es ist aber auch spannend – lest selbst!
Ich heiße Semhar Berhe und das ist meine kleine Geschichte und die meiner Familie
Ich
heiße Semhar und mit Familiennamen Berhe, weil in Eritrea tragen die
Mädchen als Familienname den Vornamen des Vaters. Ich bin 15 Jahre alt
und wurde in Eritrea am 17.02.1991 in
Keren geboren. Dort liegen meine Wurzeln, aber unsere Familie ist über
die halbe Welt verstreut. Hier ist eine Liste meiner nächsten
Verwandten – Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten:
väterlicherseits | Vorname | Nachname | Alter | Kinder | Ort |
Opa | Andom | Mehari | 73 beim Tod | 12 | gestorben 1998 |
Oma | Tebereh | Araja | 74 | 12 | Eritrea |
Tante | Timnit | Andom | 54 | 5 | Schweiz |
Tante | Grom | Andom | 52 | 3 | Saudi Arabien |
Vater | Berhe | Andom | 50 | mich | ich weiß nicht |
Onkel | Atobrahann | Andom | 48 | 1 Mädchen | Schweden |
Tante | Medhane | Andom | 46 | keine | USA |
Tante | Measa | Andom | 44 | 3 | England |
Onkel | Mulgeta | Andom | 42 | 1 Junge | Eritrea |
Onkel | Hannnibal | Andom | 40 | 1 Junge | Eritrea |
Tante | Elsa | Andom | 38 | 1 Junge | Schweden |
Tante | Trhaz | Andom | 36 | 3 | Eritrea |
Tante | Lidja | Andom | 34 | keine | Eritrea |
Tante | Zeid | Andom | 28 | keine | Schweden |
mütterlicherseits | Vorname | Nachname | Alter | Kinder | Ort |
Opa | Gebremecal | Habtemecael | 53 | 7 | Eritrea |
Oma | Miliete | Hagas | 50 | 7 | Eritrea |
Mutter | Abrehet | Wynands | 34-35 | mich | Deutschland |
Onkel | Meles | Gebremecal | 26-27 | 1 Junge | Eritrea |
Onkel | Debezay | Gebremecal | 18-20 | keine | Eritrea |
Tante | Selemauiet | Gebremecal | 16-17 | keine | Eritrea |
Tante | Nasnet | Gebremecal | 15-16, so wie ich | keine | Eritrea |
Onkel | Füzum | Gebremecal | 12 | keine | Eritrea |
Tante | Metemet | Gebremecal | 10 | keine | Eritrea |
Meine
Mutter hat mich mit 20 Jahre bekommen, aber sie hat nicht meinen Vater
geheiratet. Mein Vater (Berhe Andom) ist nach meiner Geburt in den
Sudan gegangen und kam nie zurück. Nachdem
mein Vater weg war, hat meine Mutter Arbeit gesucht in Keren, aber sie
hat keine gefunden. Dann versuchte sie es im Ausland und schaffte es
auch, und zwar im Libanon. Vorher wollte meine Mutter mir auf
wiedersehen sagen, aber sie konnte es nicht, weil ich schon am weinen
war.
Meine
Mutter ließ mich bei meiner Oma Meliete mütterlicherseits. Zwei Wochen
später kam meine Tante Measa Andom aus England zu Besuch und nahm mich
mit zur meiner Oma Tebereh väterlicherseits.
Ich
war erst fünf Jahre alt und ich habe immer gedacht: „Wo bin ich und was
mache ich hier? Wo ist meine Mutter?“ Aber ich habe mich schnell in
meine neue Familie eingelebt.
Die
Schule habe ich mit acht Jahren angefangen. Vorher war ich nicht im
Kindergarten, sondern ging direkt in die erste Klasse. Ich ging in eine
evangelische Schule mit Geschichtsunterricht. Die Schulzeit war von
07:45 Uhr bis 16:30 Uhr. Der Unterricht fing jeden Tag mit Religion an.
Folgende Fächer wurden danach erteilt:
Mathematik - Musik - Sport - Erdkunde - Biologie
Englisch - Tiringia (Muttersprache) - Leseunterricht - Geschichte
Wir
durften keine Hose tragen und auch keinen Schmuck. Die Lehrerinnen und
Lehrer durften uns schlagen. Wenn die Schüler morgens zu spät zur
Schule kamen, dann hatte die Lehrerin oder der Lehrer immer ein Lineal
dabei, damit sie den Schülern auf die Finger schlagen konnten. Manchmal
schlugen sie sehr stark. Sie vergaßen, dass wir Kinder waren.
In meiner Freizeit half ich meiner Oma im Haushalt. Meistens hatte ich nur am Wochenende Zeit für meine Freunde, aber wir haben uns immer am Spielplatz neben unserem Haus getroffen. Sport hatte ich jeden Tag, z.B. Basketball, Fußball, Handball.
Als
ich neun Jahre alt war, ist mein Opa gestorben. Da kamen seine sieben
Kinder aus dem Ausland zur Beerdigung und natürlich auch, die in
Eritrea leben, wie meine Tante Trhaz mit ihren Kindern Napoleon, Bethlehem und Wikanos. Das alles hat 40 Tage gedauert.
Bis
zu meinem elften Geburtstag hatte ich von meiner Mutter nichts gehört,
als sie mir eines Tages einen Brief schickte. Im Jahr 2001 schrieb sie
mir, dass sie in Deutschland lebt.
Im Jahr 2002 kam sie zu Besuch, um die Hochzeit ihres Bruders zu feiern. Meine Mutter fragte mich, ob ich gerne zu ihr nach Deutschland kommen möchte. Ich habe ja gesagt, war aber sehr traurig wegen meiner Oma. Ich musste sie alleine lassen. Ich habe mich nicht von meiner Oma verabschiedet, weil ich nicht wusste, wann ich nach Deutschland fliege.
Dann bin ich in Deutschland angekommen, drei Tage nach meinem Geburtstag 2004.
Ich
war zuerst in Lübeck, wo ich es sehr, sehr schön fand. Die Schule war
nicht so schlimm wie bei uns und die Lehrerinnen und Lehrer waren auch
nett. Ich fand auch schnell neue Freunde. Dort haben wir ein Jahr
gelebt. Dann sind wir umgezogen nach Stolberg, meine Mutter, mein
Stiefvater und ich. Ich war wieder traurig, weil ich meine Freunde
verlassen musste.
Jetzt bin ich in
Stolberg und gehe hier zur Schule. Ich habe neue Freunde, nette
Lehrerinnen und Lehrer. Ich gehe in die achte Klasse und komme mit der
Sprache und im Unterricht gut zurecht, denn ich bin eine
Quasselstrippe, die redet, redet, redet.
So
war mein Leben und ich freue mich schon, wie es weitergeht. Ich bin
froh diese Familie haben zu dürfen, weil es viele gewünschte Kinder
gibt! Wir sind verstreut in der Welt und ich lebe gerne in Deutschland.
Aber die Sehnsucht nach meiner Heimat ist immer da!
ROOTS-Gewinnerin Semhar Berhe
NRW-Integrationsminister Armin Laschet überreicht Preis an Siegerin des Wettbewerbs ‚Roots – Die Geschichte deiner Familie’.
Stolberg.
Im Rahmen einer kleinen Feier, die von Asli Sevindim (Aktuelle Stunde,
COSMO TV) moderiert wurde, überreichte am vergangenen Freitag
NRW-Integrationsminister Armin Laschet der stolzen Gewinnerin ihre
Urkunde und eine Siegprämie von 300 Euro.
Aber
auch Semhars Klasse ging nicht leer aus: neben kleinen Präsenten des
WDR wird am kommenden Montag für alle Schülerinnen und Schüler der
Klasse 8b der Hauptschule Kogleshäuserstraße kein 'stinknormaler'
Unterricht stattfinden! Für einen Teil der Klasse wird es einen
HipHop-Workshop mit dem Rapper Kutlu von 'Microfon Mafia' geben, für
den anderen einen Radioworkshop mit Consuelo Squillante, einer
Redakteurin von Funkhaus Europa.
Der
Wettbewerb ROOTS wurde in diesem Jahr erstmalig von Funkhaus Europa,
der internationalen Radioanstalt des WDR, ausgeschrieben. „Bewusst
haben wir uns nur an Hauptschulen gewandt, um diesen eine Möglichkeit
zu geben, zu zeigen, was in ihnen steckt – und wir waren begeistert,
was wir zu lesen bekamen“, sagte Jana Teichmann, Programmchefin von
Funkhaus Europa. Zur Jury von ROOTS gehörten unter anderem die
Moderatoren Ranga Yogeshwar, Shary Reeves und Asli Sevindim.
Über
100 Einsendungen hatte der WDR erhalten, elf davon wurden ausgewählt
und als Radiospot produziert (online hörbar unter www.wdr5.de). Vier
dieser elf Beiträge wurden dann als die Besten prämiert, darunter
Semhars.
Am
Wettbewerb teilzunehmen erwuchs im Wirtschaftslehreunterricht der
Klasse 8b der Hauptschule Kogelshäuserstraße. Die Jugendlichen sollten
sich für einen von sieben Wettbewerben entscheiden, die die
Klassenlehrerin Claudia Titz zusammengestellt hatte. Ziel war, etwas
Spannendes anzubieten und dabei zu trainieren, sich an
Rahmenbedingungen und einen Abgabetermin zu halten.
Semhar,
eine quirlige 15jährige, die erst seit drei Jahren in Deutschland lebt,
hatte sich ganz bewusst den Wettbewerb ROOTS herausgesucht und sich
sofort an die Recherchearbeit gemacht. Unterstützt wurde sie dabei von
ihren Eltern Abrehet und Dietmar Wynands.
Aufgewachsen
ist Semhar bei ihrer Großmutter im vom Krieg gebeutelten Eritrea. Ihre
Mutter musste, als Semhar drei Jahre alt war, ihr Kind zurücklassen, um
im Ausland den Lebensunterhalt zu verdienen. Erst als sie im Libanon
Jahre später einen Mann kennen und lieben lernte, war es ihr möglich
nach dem Umzug nach Deutschland ihre Tochter zu sich zu holen. Knapp,
denn der inzwischen fast 13jährigen Semhar drohte in Eritrea das
Schicksal einer Kindersoldatin.
Erstaunlich
schnell gelang Semhar die Integration in ihre neue Klasse, in ein Leben
in einer anderen Welt. Sie erlernte die Sprache, fand neue Freunde.
Aber bei allem neuen spürt man immer wieder, wie sie auch ihre
Großmutter, ihre Tanten und Onkel vermisst, die verteilt in der ganzen
Welt leben.
Semhar
aber lebt nicht im gestern sondern im heute. Deshalb will sie auch
Historikerin werden, sich mit der Geschichte ihres Landes beschäftigen,
damit das, was dort heute noch geschieht, irgendwann einmal der
Vergangenheit angehört. „Wie es auch in Deutschland gelungen ist“, so
sagt sie.
In
seiner Ansprache benannte auch Schulleiter Jörg Klein die Leistungen
Semhars als herausragend und sprach von den Chancen für das Land, die
in solch einem Potential liegen.
Minister
Laschet würdigte ebenfalls den Einsatz Semhars und betonte, dass die
Hauptschule viel zu bieten habe und ganz zu Unrecht oft schlecht
dargestellt würde.
Musikalische
eingerahmt wurde die Preisübergabe vom Saz-Spieler Hüssein Dogan
(Klasse 6b) und von Dilan Sahin (Klasse 8b), die auf Ihrer Querflöte
einen strammen Marsch präsentierte und damit auch ein Beispiel für die
gelungene Integration darstellte. Zum Abschluss tanzte die Türkische
Tanzgruppe der Schule.
Claudia Titz
Artikel aus: 2006/2007 - Ausgabe 07
Artikel aus: 2006/2007 - Ausgabe 08