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Anfänge der KogelStreetNews

ROOTS 2007 - Semhar


Die Klasse 8b hat ein ‚Wettbewerb’-Projekt gemacht. Zur Auswahl standen sieben Wettbewerbe. Die Schülerin Semhar Berhe hat sich den Wettbewerb ROOTS ausgesucht. Dabei musste sie die Geschichte ihrer Familie in Erfahrung bringen und ihr eigenes Leben aufschreiben.

Die Redaktion von Funkhaus Europa fand ihren Beitrag so interessant, dass sie ihn ausgewählt hat. Nun wird ein Radiobericht über Semhar gemacht und sie kommt ins Internet und auf eine CD, die das Projekt ‚Roots’ (= Wurzeln) in Europa bekannt machen soll. Inzwischen waren schon zwei Radioreporter in der 8b, um Semhar zu interviewen. Sie haben viele Fotos gemacht und Semhar auch zu Hause besucht, um zu sehen, wie sie heute lebt. Es ist aber auch spannend – lest selbst!

 

 

 
 


 
Ich heiße Semhar Berhe und das ist meine kleine Geschichte und die meiner Familie

 
Ich heiße Semhar und mit Familiennamen Berhe, weil in Eritrea tragen die Mädchen als Familienname den Vornamen des Vaters. Ich bin 15 Jahre alt und wurde in Eritrea am
17.02.1991 in Keren geboren. Dort liegen meine Wurzeln, aber unsere Familie ist über die halbe Welt verstreut. Hier ist eine Liste meiner nächsten Verwandten – Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten:

  

väterlicherseits

Vorname

Nachname

Alter

Kinder

Ort

Opa

Andom

Mehari

73 beim Tod

12

gestorben 1998

Oma

Tebereh

Araja

74

12

Eritrea

Tante

Timnit

Andom

54

5

Schweiz

Tante

Grom

Andom

52

3

Saudi Arabien

Vater

Berhe

Andom

50

mich

ich weiß nicht

Onkel

Atobrahann

Andom

48

1 Mädchen

Schweden

Tante

Medhane

Andom

46

keine

USA

Tante

Measa

Andom

44

3

England

Onkel

Mulgeta

Andom

42

1 Junge

Eritrea

Onkel

Hannnibal

Andom

40

1 Junge

Eritrea

Tante

Elsa

Andom

38

1 Junge

Schweden

Tante

Trhaz

Andom

36

3

Eritrea

Tante

Lidja

Andom

34

keine

Eritrea

Tante

Zeid

Andom

28

keine

Schweden

 

mütterlicherseits

Vorname

Nachname

Alter

Kinder

Ort

Opa

Gebremecal

Habtemecael

53

7

Eritrea

Oma

Miliete

Hagas

50

7

Eritrea

Mutter

Abrehet

Wynands

34-35

mich

Deutschland

Onkel

Meles

Gebremecal

26-27

1 Junge

Eritrea

Onkel

Debezay

Gebremecal

18-20

keine

Eritrea

Tante

Selemauiet

Gebremecal

16-17

keine

Eritrea

Tante

Nasnet

Gebremecal

15-16, so wie ich

keine

Eritrea

Onkel

Füzum

Gebremecal

12

keine

Eritrea

Tante

Metemet

Gebremecal

10

keine

Eritrea

  

Meine Mutter hat mich mit 20 Jahre bekommen, aber sie hat nicht meinen Vater geheiratet. Mein Vater (Berhe Andom) ist nach meiner Geburt in den Sudan gegangen und kam nie zurück. Nachdem mein Vater weg war, hat meine Mutter Arbeit gesucht in Keren, aber sie hat keine gefunden. Dann versuchte sie es im Ausland und schaffte es auch, und zwar im Libanon. Vorher wollte meine Mutter mir auf wiedersehen sagen, aber sie konnte es nicht, weil ich schon am weinen war.

 

Meine Mutter ließ mich bei meiner Oma Meliete mütterlicherseits. Zwei Wochen später kam meine Tante Measa Andom aus England zu Besuch und nahm mich mit zur meiner Oma Tebereh väterlicherseits.

Ich war erst fünf Jahre alt und ich habe immer gedacht: „Wo bin ich und was mache ich hier? Wo ist meine Mutter?“ Aber ich habe mich schnell in meine neue Familie eingelebt.

 
Die Schule habe ich mit acht Jahren angefangen. Vorher war ich nicht im Kindergarten, sondern ging direkt in die erste Klasse. Ich ging in eine evangelische Schule mit Geschichtsunterricht. Die Schulzeit war von 07:45 Uhr bis 16:30 Uhr. Der Unterricht fing jeden Tag mit Religion an. Folgende Fächer wurden danach erteilt:

Mathematik - Musik - Sport - Erdkunde - Biologie
Englisch - Tiringia (Muttersprache) - Leseunterricht - Geschichte
     

Wir durften keine Hose tragen und auch keinen Schmuck. Die Lehrerinnen und Lehrer durften uns schlagen. Wenn die Schüler morgens zu spät zur Schule kamen, dann hatte die Lehrerin oder der Lehrer immer ein Lineal dabei, damit sie den Schülern auf die Finger schlagen konnten. Manchmal schlugen sie sehr stark. Sie vergaßen, dass wir Kinder waren.
 

In meiner Freizeit half ich meiner Oma im Haushalt. Meistens hatte ich nur am Wochenende Zeit für meine Freunde, aber wir haben uns immer am Spielplatz neben unserem Haus getroffen. Sport hatte ich jeden Tag, z.B. Basketball, Fußball, Handball.

 
Als ich neun Jahre alt war, ist mein Opa gestorben. Da kamen seine sieben Kinder aus dem Ausland zur Beerdigung und natürlich auch, die in Eritrea leben, wie meine Tante Trhaz mit ihren Kindern Napoleon, Bethlehem und Wikanos. Das alles hat 40 Tage gedauert.

 
Bis zu meinem elften Geburtstag hatte ich von meiner Mutter nichts gehört, als sie mir eines Tages einen Brief schickte. Im Jahr 2001 schrieb sie mir, dass sie in Deutschland lebt.

Im Jahr 2002 kam sie zu Besuch, um die Hochzeit ihres Bruders zu feiern. Meine Mutter fragte mich, ob ich gerne zu ihr nach Deutschland kommen möchte. Ich habe ja gesagt, war aber sehr traurig wegen meiner Oma. Ich musste sie alleine lassen. Ich habe mich nicht von meiner Oma verabschiedet, weil ich nicht wusste, wann ich nach Deutschland fliege.

 
Dann bin ich in Deutschland angekommen, drei Tage nach meinem Geburtstag 2004.

 
Ich war zuerst in Lübeck, wo ich es sehr, sehr schön fand. Die Schule war nicht so schlimm wie bei uns und die Lehrerinnen und Lehrer waren auch nett. Ich fand auch schnell neue Freunde. Dort haben wir ein Jahr gelebt. Dann sind wir umgezogen nach Stolberg, meine Mutter, mein Stiefvater und ich. Ich war wieder traurig, weil ich meine Freunde verlassen musste.

 
Jetzt bin ich in Stolberg und gehe hier zur Schule. Ich habe neue Freunde, nette Lehrerinnen und Lehrer. Ich gehe in die achte Klasse und komme mit der Sprache und im Unterricht gut zurecht, denn ich bin eine Quasselstrippe, die redet, redet, redet.

 
So war mein Leben und ich freue mich schon, wie es weitergeht. Ich bin froh diese Familie haben zu dürfen, weil es viele gewünschte Kinder gibt! Wir sind verstreut in der Welt und ich lebe gerne in Deutschland. Aber die Sehnsucht nach meiner Heimat ist immer da!

 

 



Hauptschule Kogelshäuserstraße stolz auf
ROOTS-Gewinnerin Semhar Berhe



NRW-Integrationsminister Armin Laschet überreicht Preis an Siegerin des Wettbewerbs ‚Roots – Die Geschichte deiner Familie’.

 

Stolberg. Im Rahmen einer kleinen Feier, die von Asli Sevindim (Aktuelle Stunde, COSMO TV) moderiert wurde, überreichte am vergangenen Freitag NRW-Integrationsminister Armin Laschet der stolzen Gewinnerin ihre Urkunde und eine Siegprämie von 300 Euro.

Aber auch Semhars Klasse ging nicht leer aus: neben kleinen Präsenten des WDR wird am kommenden Montag für alle Schülerinnen und Schüler der Klasse 8b der Hauptschule Kogleshäuserstraße kein 'stinknormaler' Unterricht stattfinden! Für einen Teil der Klasse wird es einen HipHop-Workshop mit dem Rapper Kutlu von 'Microfon Mafia' geben, für den anderen einen Radioworkshop mit Consuelo Squillante, einer Redakteurin von Funkhaus Europa.

Der Wettbewerb ROOTS wurde in diesem Jahr erstmalig von Funkhaus Europa, der internationalen Radioanstalt des WDR, ausgeschrieben. „Bewusst haben wir uns nur an Hauptschulen gewandt, um diesen eine Möglichkeit zu geben, zu zeigen, was in ihnen steckt – und wir waren begeistert, was wir zu lesen bekamen“, sagte Jana Teichmann, Programmchefin von Funkhaus Europa. Zur Jury von ROOTS gehörten unter anderem die Moderatoren Ranga Yogeshwar, Shary Reeves und Asli Sevindim.

Über 100 Einsendungen hatte der WDR erhalten, elf davon wurden ausgewählt und als Radiospot produziert (online hörbar unter www.wdr5.de). Vier dieser elf Beiträge wurden dann als die Besten prämiert, darunter Semhars.

Am Wettbewerb teilzunehmen erwuchs im Wirtschaftslehreunterricht der Klasse 8b der Hauptschule Kogelshäuserstraße. Die Jugendlichen sollten sich für einen von sieben Wettbewerben entscheiden, die die Klassenlehrerin Claudia Titz zusammengestellt hatte. Ziel war, etwas Spannendes anzubieten und dabei zu trainieren, sich an Rahmenbedingungen und einen Abgabetermin zu halten.

Semhar, eine quirlige 15jährige, die erst seit drei Jahren in Deutschland lebt, hatte sich ganz bewusst den Wettbewerb ROOTS herausgesucht und sich sofort an die Recherchearbeit gemacht. Unterstützt wurde sie dabei von ihren Eltern Abrehet und Dietmar Wynands.

Aufgewachsen ist Semhar bei ihrer Großmutter im vom Krieg gebeutelten Eritrea. Ihre Mutter musste, als Semhar drei Jahre alt war, ihr Kind zurücklassen, um im Ausland den Lebensunterhalt zu verdienen. Erst als sie im Libanon Jahre später einen Mann kennen und lieben lernte, war es ihr möglich nach dem Umzug nach Deutschland ihre Tochter zu sich zu holen. Knapp, denn der inzwischen fast 13jährigen Semhar drohte in Eritrea das Schicksal einer Kindersoldatin.

Erstaunlich schnell gelang Semhar die Integration in ihre neue Klasse, in ein Leben in einer anderen Welt. Sie erlernte die Sprache, fand neue Freunde. Aber bei allem neuen spürt man immer wieder, wie sie auch ihre Großmutter, ihre Tanten und Onkel vermisst, die verteilt in der ganzen Welt leben.

Semhar aber lebt nicht im gestern sondern im heute. Deshalb will sie auch Historikerin werden, sich mit der Geschichte ihres Landes beschäftigen, damit das, was dort heute noch geschieht, irgendwann einmal der Vergangenheit angehört. „Wie es auch in Deutschland gelungen ist“, so sagt sie.

In seiner Ansprache benannte auch Schulleiter Jörg Klein die Leistungen Semhars als herausragend und sprach von den Chancen für das Land, die in solch einem Potential liegen.

Minister Laschet würdigte ebenfalls den Einsatz Semhars und betonte, dass die Hauptschule viel zu bieten habe und ganz zu Unrecht oft schlecht dargestellt würde.

Musikalische eingerahmt wurde die Preisübergabe vom Saz-Spieler Hüssein Dogan (Klasse 6b) und von Dilan Sahin (Klasse 8b), die auf Ihrer Querflöte einen strammen Marsch präsentierte und damit auch ein Beispiel für die gelungene Integration darstellte. Zum Abschluss tanzte die Türkische Tanzgruppe der Schule.

 
Claudia Titz



                                                                                        
 
Artikel aus: 2006/2007 - Ausgabe 07
Artikel aus: 2006/2007 - Ausgabe 08